6. Oktober 2023
Weißt du, wie der kleine Junge auf der Nordseeinsel tollte,
Gleich am ersten Ferientag den Weg zum Strand erkunden wollte,
Wie er sich umdrehte und dich übermütig jubelnd rief,
Und dir zugewandt lachend in den Stacheldrahtzaun lief?
Siehst du noch wie diese abscheulichen, messerscharfen Spitzen
Seine zarte Kinderhaut rechts unterm Ohr am Hals aufritzen,
Einen Fingerbreit nur am Verhängnis ging der Schnitt vorbei,
Auf Knien hast du ihn getröstet – als ob gar nichts gewesen sei.
Wenn’s Wackersteine auf dich regnet,
Zähl die hellen Augenblicke,
Zähl nicht deine Missgeschicke,
Zähl, womit dich das Leben segnet!
Wie war das, als sie dir ihren kleinen Hund in Obhut gaben
Und dich flehentlich „pass nur gut auf ihn auf“ beschworen haben.
Du hast so gut aufgepasst und doch ist er dir abgehaun,
Hat sich einfach durchgewühlt, die Bestie, unterm Gartenzaun.
Hey, bleib hier, du blöder Köter, doch er ist schnell wie ein Wiesel
Und du sprintest hinterher, er läuft genau vor diesen Diesel,
Reifen quietschen, weiße Wölkchen, und der Riesenlaster hält –
Manchmal ist verbrannter Gummi der schönste Geruch auf der Welt.
Wenn’s Wackersteine auf dich regnet,
Zähl die hellen Augenblicke,
Zähl nicht deine Missgeschicke,
Zähl, womit dich das Leben segnet!
Manchmal fühlst du dich von allen guten Geistern verlassen,
Manchmal siehst du alle deine Glückssterne verblassen,
Manchmal scheint dir dein Bündel schwer zu tragen,
Dann zähl nicht deine Niederlagen, dein Versagen.
Es steht in den Apostelbriefen,
Es steht in allen Glückstarifen:
Es gibt im Leben keine Höhen – ohne Tiefen!
Denk dran, wie der Zöllner dich am Flugplatz Frankfurt durchgewunken
Hat, du kamst aus Amsterdam und hast so nach dem Zeug gestunken
Und dein Rucksack mit dem „Atomkraft, nein danke“-Logo barst
Randvoll vom Jahresbedarf des starken Rauchers, der Du warst.
Weißt du noch, wie du mit Rita für die Mathearbeit übtest,
Voller Hingabe, und wie du, der du kein Wässerchen trübtest,
Mit ’ner glatten 6 vor Freude in die Luft gesprungen bist,
Weil Rita vom Matheüben nicht schwanger geworden ist.
Wenn’s Wackersteine auf dich regnet,
Zähl die hellen Augenblicke,
Zähl nicht deine Missgeschicke,
Zähl, womit dich das Leben segnet!
Aus „Mr. Lee“, 2016
Fotos © Hella Mey