„Selma-In Sehnsucht eingehüllt“
Vor über sechzig Jahren schrieb ein 15-jähriges jüdisches Mädchen aus
Czernowitz Gedichte über eine Liebe, die mehr Traum als Wirklichkeit
war. Ihr Name war Selma Meerbaum-Eisinger. Ihr Leben schien auf
schicksalhafte Weise mit dem der Anne Frank verwandt. Sie starb am 16.
Dezember 1942, 18-jährig im SS- Arbeitslager Michailowska. Selma
Meerbaum-Eisinger – eine Cousine von Paul Celan – nahm die fragilen
Kunstwerke mit in ihren frühen Tod, doch 57 ihrer zeitlosen Gedichte
sind auf abenteuerliche Weise gerettet worden.
Wie durch ein Wunder gelang es Selma vor ihrer Deportation, ihre
Gedichte ihrer Freundin Renée Abramovici zuzuspielen. Renée gelang die
Flucht nach Israel. Zu Fuß, mit dem Pferdewagen, auf Dächern von
Personenzügen schlug sie sich quer durch Europa. Durch Polen, Ungarn,
die Tschechoslowakei, durch Oesterreich, durch Deutschland nach Paris.
1948 erreichte sie auf dem Schiffsweg Israel, in ihrem Rucksack Selmas
handgeschriebenen Gedichtband „Blütenlese“:
“…mit Selmas Gedichten habe ich die Heimat herumgetragen und hierher
gebracht.“
Selma liebte Blumen und die Natur. Sie liebte Rilke, Heine und Tagore.
Sie liebte den Sommer und im Sommer schrieb sie über den Herbst. Oft
stand sie lange an einen Baumstamm gelehnt, den Blick in die Ferne
gerichtet, abwesend hier und anwesend dort, wo Träume geboren wurden.
Selma wusste, dass die Stadt, in der ihre Träume hätten Wirklichkeit
werden können, “nun ganz fern ist, wie ein Bild aus einem alten
Märchen.” In ihrem Gedicht „Rote Nelken“ sagt sie es beinahe
entschuldigend, so, als ob sie sich damit abgefunden hätte, dass es ihr
nicht mehr zustünde, diese Sehnsucht, dieser Wunsch nach Lachen und
Glücklichsein:
„..so hör‘ ich hab für dich gelacht.“
Ein 1968 in der DDR erschienenes Buch sorgte für die Entdeckung von
Selmas Gedichten. Der Herausgeber hatte durch Zufall zwei ihrer
Gedichte in Bukarest gefunden. Eines druckte er ab, ohne zu ahnen, was
er damit in Bewegung brachte. Hersch Segal, 1940 Selmas Klassenlehrer,
las dieses Buch in Israel und wandte sich an seine ehemalige Schülerin
Renée Abramovici, die ihm von Selmas Gedichtband erzählte.
Hersch Segal hat alle erhalten gebliebenen Gedichte Selmas nach dem
Krieg unter dem Namen „Blütenlese“ als Privatdruck herausgebracht.
Einen Verlag für eine Buchveröffentlichung fand Segal nicht. Er liess
400 Büchlein auf eigene Kosten drucken. Danach galten die Gedichte
jahrzehntelang als verschollen, bis der Journalist und Autor Jürgen
Serke Selmas Spur aufnahm und 1985 ihre Gedichte unter dem Titel “Ich
bin in Sehnsucht eingehüllt” veröffentlichte. Gewidmet hatte Selma
ihren Gedichtband dem ein Jahr älteren Lejser Fichman.
“Und hast du auch noch tausend Sterne in der Hand, sie kann noch
zehnmal tausend tragen”, heisst es in einem ihrer Gedichte. Sie
sprechen von ihrer Liebe und von der Ahnung, dass sie sich nicht
erfüllen wird. Die deutsche Lyrikerin Hilde Domin über Selma: “Ihre
Begabung steht sicher auf einer Stufe mit dem jungen Hofmannsthal.
Trotz des Sonderschicksals ist dies ein Werk, das deutlich ins Gut der
deutschen Poesie gehört, nicht der spezifisch jüdischen. Es ist eine
Lyrik, die man weinend vor Aufregung liest: so rein, so schön, so hell
und so bedroht”.
Selma Meerbaum-Eisinger hinterließ mit ihrem Gedichtband „Blütenlese“
ein Stück Weltliteratur. Geschrieben in einer dunklen Epoche, klingen
ihre Gedichte heute noch immer frisch und lebendig. Die Gefühle eines
jungen Mädchens, festgehalten 1941, werden Jahrzehnte später in
gleichem Maße gelebt.
Vor ein paar Jahren stieß das Schweizer World Quintet (ehemals Kol
Simcha), das seit Mitte der Achtziger einen frischen Mix mit Elementen
von World Music, Jazz, Klassik und Klezmer pflegt, auf Selmas Gedichte.
Neben ihren Konzertauftritten mit gefeierten Gastspielen in der New
Yorker Carnegie Hall engagiert sich das World Quintet auch erfolgreich
im Bereich „Filmscore“. Sie spielten musikalische Passagen zu Caroline
Links Oscar-nominiertem Drama „Jenseits der Stille“ und komponierten
den gesamten Soundtrack für Oscarpreisträger Xavier Kollers
„Gripsholm“. Die Musiker schufen einen luftigen Rahmen für die
blütenfeinen Reime, Sprachkunst und Gefühle des lebenshungrigen
Mädchens.
“Wer Lust zu lieben hat, steht von den Toten auf”, schreibt Robert
Walser, “und nur wer liebt, ist lebendig”. Zwölf der renommiertesten
deutschen Sängerinnen und Sänger aus allen Generationen haben Selma
ihre Stimme gegeben, um sie mehr als sechzig Jahre nach ihrem Tod
wieder lebendig werden zu lassen. Sie interpretieren die subtilen
Wortgefüge so behutsam und respektvoll, als wollten sie dem Glanz
dieser jugendlichen Poesie nicht die Leuchtkraft nehmen.
Bei dem Projekt wirken mit: Xavier Naidoo, Reinhard Mey, Sarah Connor
(erstmals auf Deutsch), Yvonne Catterfeld, Hartmut Engler (Pur),
Thomas D, Joy Denalane, Jasmin Tabatabai, Volkan Baydar (Orange Blue),
Inga Humpe (2raumwohnung), Stefanie Kloß (Silbermond) und Ute Lemper.
Mit der liebevoll gestalteten Verpackung in Buchform und vielen
informativen Texten ist diese Musik-CD ein Poesiealbum der ganz
besonderen Art.