„Ich wollte wie Orpheus singen“ sang er, als er vor über vier Jahrzehnten beim legendären Burg Waldeck Festival zum ersten Mal allein auf der Bühne stand. Mit seinen Liedern die Sinne der Menschen erreichen, wollte er, ihre Herzen berühren und ihren Verstand herausfordern. Klare, grade Lieder sollten es sein, ohne Schnörkel, ohne falsches Pathos, das ungeschönte, ehrliche Spiegelbild der Gedanken und Gefühle des Sängers. Und genau so grade und ungekünstelt sollten sie zu singen sein: Wie Orpheus eine Lyra, mußte ihm eine Gitarre zur Begleitung genügen, um mit minimalen szenischen Mitteln alle Energie auf das Wesentliche zu bündeln: Auf das Lied im Vordergrund, auf die Worte und die Melodie, die sie trägt. Keine Feuerwerkskörper, keine Nebelmaschine, keine Lichtorgel, kein Brimborium, das ablenkt. Mit der Sicherheit dessen, der von einer Idee beseelt ist, der für ein Ideal brennt, der ein klares Bild seines Weges vor Augen hat, wußte er vom ersten Lied an, was er wollte – und was er nicht wollte! Und mit derselben Sicherheit ist er diesen Weg gegangen, unbeirrt durch Widerstände, unverbogen durch Erfolge und gänzlich unberührt von Versuchungen und Verlockungen, den leichteren Weg zu wählen.
Anfang der 70er Jahre regneten die ersten Goldenen Schallplatten auf ihn herab, aber er hatte zuvor lange genug „im kalten Regen gestanden“ („Freundliche Gesichter“), um die Rückseite der Medaillen zu kennen und sich beim Lächeln manches Gratulanten noch dessen ehemals mitleidiger Ablehnung zu erinnern. Zu lang war der Weg bis dahin und zu steinig, als daß ihn so viel plötzlicher Glanz noch hätte blenden können. Und es konnte ihn nicht aus dem Lot bringen, als ihn sein Publikum aus den Kellertheatern in die großen Theater und aus den Clubs in die Konzertsäle trug: Es war die Erfüllung seines Wunsches und er hatte lange dafür gerungen und gesungen. Es war die Zeit der ersten großen Tournee mit dem grade mutig in die Selbständigkeit aufgebrochenen Veranstalter Peter Graumann. Eine Begegnung, aus der eine lebenslange Partnerschaft und Freundschaft werden sollte. Viele hundert Konzerte haben die beiden bestritten, ein paar Mal dabei den Umfang des Erdballs auf den Straßen Deutschlands, Frankreichs, Niederlande, Belgien, Luxemburg, Österreichs und der Schweiz abgefahren. Die „Silberhochzeit“ haben die beiden lange hinter sich, sind längst zur kleinsten Großen Tournee auf dem Kontinent geworden. Dabei haben sie – absolut einmalig in diesem Haifischbecken – nie einen schriftlichen Vertrag miteinander gehabt, ihre Zusammenarbeit beruht auf einem Wort und einem Handschlag im Jahre 1971. *
Reinhard Mey ist Freigeist, Freidenker, einer, der es von seinen ersten Liedern an abgelehnt hat, mit den Wölfen zu heulen. Gleich den ersten, noch so bescheidenen Erfolg hat er in die Wahrung seiner uneingeschränkten Gedanken-, Rede- und Handlungsfreiheit umgemünzt, um frei zu bleiben gegenüber Produzentenwünschen, Medienverlockungen und Vorgaben der Plattenfirmen. Er hat sich keinem Trend angeschlossen, keiner Mode unterworfen, von keiner Partei, keiner Interessengruppe und keinem Konzern einvernehmen lassen. Er duldet heute wie damals keinen Sponsor für seine Tourneen, er macht für kein Produkt Werbung und gibt keinen Ton und keine Zeile seiner Lieder dafür her. Mey ist nicht auf Galas zu sehen, nicht auf Vernissagen und nicht da, wo die üblichen Verdächtigen die Kreation einer „Hunde-Wellness-Line“ feiern. Man sucht ihn vergebens auf den bunten Fotos mit den Lächlern, die sich an ihren Schampusgläsern festhalten, bei den Häppchen oder in der Schlange am kalten Buffet. Man wird ihn nicht auf Kanzlerfesten treffen und nicht bei der Pirouette auf dem Roten Teppich vor der Filmpremiere. Mey gehört keinem Event-Manager, keinem Politiker und keinem Medienzaren, Mey gehört nur sich selbst. Er ist unkäuflich und unverkäuflich, „niemands Herr und niemands Untertan“, wie er singt, niemandem verpflichtet, außer seinen eigenen Idealen und dem Respekt seiner Zuhörer.
Seine Lieder sind wie Theaterstücke, sind Dramen und Komödien, sind Posse und Requiem. Sie sind voller Trauer und Freude, voller Spott und Mitgefühl, voller Trost – und all diese Empfindungen sind ganz nah beieinander in seinen Liedern, wie in unserem Leben. Es sind private Weltereignisse, selbst erlebt, miterlebt, tief nachempfunden und in einer von immer treffenden Bildern reichen Sprache meisterhaft erzählt. Es sind originalgetreue Miniaturen, in denen man auch beim hundertsten Mal hören noch eine neue Wendung, ein verstecktes Lächeln, einen hintergründigen Seitenhieb entdeckt. Es sind meisterhaft geschmiedete Verse, mit unbändiger Freude an der Sprache und brillantem Wortwitz Silbe für Silbe liebevoll ziseliert, Zeugnis einer vom Aussterben bedrohten Kunst, in der er ganz einfach nicht zu übertreffen ist.
Reinhard Mey ist wieder unterwegs. Nach einem Marathon von 60 Konzerten in Deutschland im Herbst 2005 kehrt er für 10 Chansonabende in einer Österreich-Tournee an den Ursprung seiner Karriere und die Orte seiner ersten großen Erfolge zurück. Ãœber ein Jahr lang hat er sich darauf vorbereitet: Mit seinem 23. Studioalbum „Nanga Parbat“, mit der Auswahl der Lieder für sein Bühnenprogramm, das einer wohlüberlegten Dramaturgie folgend einen Bogen spannen soll vom Anfang bis heute, mit dem Einstudieren der Lieder und nicht zuletzt mit dem athletischen Training der Stimme und der Kondition, die es braucht, um Abend für Abend drei Stunden allein auf der Bühne zu stehen, zu singen und zu agieren – das ist Leistungssport…
Reinhard Mey hat sich verändert, ja, wie wir alle uns mit jedem Tag verändern, wenn wir nicht versteinern. Nein, Reinhard Mey ist „nicht mehr der alte“, er ist nicht stehengeblieben, er ist 500 Lieder weitergegangen, reifer geworden und weiser, dabei hat er seine Zähne nicht verloren und seine Lieder nicht ihren Biß. Er ist direkter geworden, wissend, daß er nicht mehr alle Zeit der Welt hat, um zu sagen, was er sagen will. Die Zeitgeiststürme haben ihm nichts anhaben können und nicht der Wandel der Zeiten, weil er sich immer selbst treu geblieben ist und seinen Idealen von Menschlichkeit, Aufrichtigkeit und Frieden. Er geht seinen Weg noch immer aufrecht.
Er geht allein auf die Bühne, heute wie damals, wie beim allerersten Mal. Das alte Fieber ist da, das alte Feuer, die Anspannung. Einsam steht er da mit einer Gitarre, schwarz im Lichtkegel des Scheinwerfers, ganz im Hier und Jetzt. Verletzlich, dünnhäutig, nur auf sich allein gestellt, nur seine Lieder tragen ihn. Einsam aber geborgen in der Zuneigung, die ihm das Publikum entgegenbringt. Er ist im Zwiegespräch mit seinen Zuhörern, wenn er erzählt, er füllt den Raum mit Wärme, wenn er singt. Er gibt alles, gibt sich ganz, verausgabt sich, verbrennt sich, zündet alle Lichter an für diesen einen Abend. Das wievielte Konzert in seinem Leben, der wievielte Tag dieser Tournee mag das sein? Die Frage, stellt er sich nicht: Dieser Abend ist das einzige, was zählt, dieser Abend ist der wichtigste in seinem Leben, diesen Abend gibt es nur ein einziges Mal, dieses Konzert soll das beste werden, das schönste, unvergeßlich – Reinhard Mey will noch immer wie Orpheus singen!
* Peter Graumann ist am 29.10.2005 gestorben