11. Februar 2024
Wieder alles zugeparkt vor der Änderungsschneiderei, welch ein Aufwand nur um eine Jeans kürzen zu lassen. Wenden auf der Auffahrt zur Post, vielleicht fährt einer weg, nochmal versuchen. Ein alter grauer Panther, also Pantherin, steht da rum und beäugt mich und das umständliche Wendemanöver. Tatsächlich, da ist ein Platz frei geworden. Sie kuckt immer noch, ich hasse es, wenn man mir beim Rangieren zukuckt. Die Alte setzt mich unter Druck, rührt sich nicht von der Stelle, steht vor mir als ich aussteige, zur Salzsäule erstarrt. „Reinhard“, ruft sie. Na servus, denk ich, das passt. Reflexartig will ich eine Autogrammkarte zücken, aber verdammt, ich hab ja gar keine mehr, seit meine Frau gesagt hat, ich sollte mich schämen, mit 81 herumzulaufen und Ansichtskarten von mir zu verteilen. Sie gebrauchte das Wort Ansichtskarten. „Reinhard! Kennst Du mich noch?“ „Hä?“, „Helga“. Helga … ich musste an eines meiner Lieblingslieder der EAV denken: Helga wer, Helga wie, diesen Namen hört ich nie, tirili tirila tirilo. „Na, Helga Schilling“. Und da kam die Erleuchtung, Helga Schilling, meine Güte, ja! Helga aus Hermsdorf, aus dem gelben efeubewachsen Haus gegenüber der Bushaltestelle vom 15er. „Aber jetzt heißt er 125er, und ich wohne jetzt hier um die Ecke, Zwergenweg 13.“ „Meine Güte, wann war das, eine Ewigkeit her“, „Sommer 59!“ Richtig, Sommer 59. Ich hatte ein Moped, Zündapp Combinette, für nur 1 Person zugelassen, aber was kümmerten mich solche Nebensächlichkeiten, ohne Fußrasten, ab ins Strandbad Lübars. Du mit dem bunt geringelten Badeanzug unter deinem Sommerkleid, ich mit meiner modischen Dreiecksbadehose, auf der vorn, wo es drauf ankommt, mein Rettungschwimmerabzeichen prangte. Du sprangst vom 5 Meter, ich vom Dreier, zusammen schwammen wir weit raus. Ich hoffte, dich retten zu müssen, um dich wie Tarzan auf meinen starken Armen ans Ufer zu tragen, aber du warst die bessere Schwimmerin, als erste zurückgekrault bis zu den Balken am Nichtschwimmer-Bereich. Daran hingen wir ewig im Wasser, kicherten, manchmal berührten wir uns zufällig mit den Ellbogen, manchmal zufällig unter Wasser mit den Beinen, Gänsehaut – vom kalten Wasser. Wir lagen auf deiner mausfarbenen, schrubbligen Decke, „Deutsches Jugendherbergswerk“ in dicken Buchstaben. Rechts und links von uns unsere Clique, Burkard Pfaff, Hansi Bensemann, Renate Renz, die Dorfschöne, Marianne Zeffner. Wir hatten unsere Alibi-Hefte dabei, wir lernten Vokabeln, du Englisch, ich Französisch. Wir beide waren eine Insel. Manchmal blieben wir, wenn die andern schon gegangen waren, wenn die Sonne schon tief stand, der Sand an den Füßen kühl wurde. Ich kaufte uns eine Sinalco am Kiosk, eine Nebeneinnahme für den Bademeister, oder Brausewürfel, Ahoi. Spätestens 8 Uhr zu Hause war die Ansage deiner Eltern, und deren Unwillen wollte ich mir nicht zuziehen. Ich brachte dich mit dem Moped nach Hause, du hinter mir auf der Einer-Sitzbank, fröstelnd, die Arme um meine Taille geschlossen, ohne Helm, das Badetuch um den Hals, deine Haare vom Fahrtwind zerzaust. Vor Deinem Elternhaus ein tiefer, langer Blick, mehr nicht, aber dieser Blick reichte für einen ganzen Sommer, darin lag Glück und Sehnsucht und ein Versprechen, das wir nie eingelöst haben. Mach’s gut, bis morgen. „Menschenskind Reinhard, dass du das alles noch weißt.“
Wir standen und erzählten, während ein fleißiger Ordnungsamt-Mitarbeiter mich aufgeschrieben hatte. Für den Sprung in die Änderungsschneiderei hatte ich ja keinen Parkschein gelöst. „Mach’s gut, wir sehen uns“. 25 € stand auf dem Ticket, Zeuge Amtmann Janitzki. Wir gingen, ich hätte sie einfach mal in den Arm nehmen sollen, wir nehmen doch heute jeden in den Arm, Küsschen links, Küsschen rechts, aber wer in der Jugend ein Träumer ist und schüchtern, bleibt es bis ins hohe Alter – ist so.