9. November 2024
Zwischen Kontrollpunkt Drewitz und der Brücke von Dreilinden
Zwischen Kontrollpunkt Drewitz und der Brücke von Dreilinden,
Wo eine Welt aufhörte, eine andere begann,
Ich seh das Bild seitenverkehrt im Rückspiegel verschwinden.
Wie gut ich mich an dies Stück Niemandsland erinnern kann.
Wie viele Stunden meines Lebens hab ich hier verwartet,
Und immer irgendwie beengt, beklommen und bedrückt,
Und immer in der falschen Spur gestoppt und neu gestartet
Und wieder ein paar Meter in der Schlange aufgerückt.
Die Fließbänder, auf denen die Ausweispapiere rollen,
Der Grenzer, der sie mit stählernem Blick entgegennimmt,
Die tragisch-komisch demütigenden Gesichtskontrollen,
Und immer Angst dabei, dass vielleicht irgendwas nicht stimmt.
Was mag hinter den weiß getünchten Fenstern jetzt geschehen?
Was ist, wenn sie mich jetzt hier einfach aus dem Auto holn?
Ich hab Willkür und Unfreiheit auch anderswo gesehen,
Doch nie so drohend nah, so zynisch und so unverholn.
Ich fahre oftmals hier vorbei seit den Novembertagen,
Doch nie ist’s ganz alltäglich oder Selbstverständlichkeit,
Nie, ohne mir „Mann, weißt du noch, wie das hier war“, zu sagen,
Nie ohne ein ganz seltsames Gefühl von Dankbarkeit.
Nie, ohne jene Fernsehbilder heraufzubeschwören,
Wie sie in Leipzig montagabends auf die Straße gehn,
Nie, ohne noch einmal in mir die Sprechchöre zu hören,
Ein Kerzenmeer im Wind vor Polizeistiefeln zu sehn,.
Von denen, die schon lang vorher ihre Stimmen erhoben,
Verfolgt und eingesperrt und ausgebürgert und verbannt,
Die nicht verstummt sind vor Schikanen und dem Druck von oben,
Die mit ihren Gebeten und dem zähen Widerstand.
Und dann die Nacht als in Berlin die Schlagbäume hochgingen,
Als da die ersten rüberkamen, brach ein Jubel aus,
Ein Lachen und ein Weinen, ein Umarmen und Umringen,
Und keinen von uns hielt es da in dieser Nacht zu Haus.
Die neu geschenkte Freiheit hab ich mir wirklich erfahren,
Hab jeden neuen Übergang hin und zurück probiert,
Ob die Oranienburger Straße auch nach so viel Jahren
Ist, wie sie heißt und wirklich nach Oranienburg hinführt.
Verfall habe ich statt blühender Landschaften gesehen,
Und ahnte, dass wir auch Problemen und unruhiger Zeit
Und riesigen Herausforderungen entgegengehen
Und war begierig, Teil zu haben und zum Teiln bereit.
Und als sie endlich die verhasste Mauer niederrissen,
Ging da auch mancher Plan und manch erstarrte Form kaputt.
Wer aber Augen hatte, um zu sehn, der musste wissen,
Wo Mauern fallen, da türmen sich auch Berge von Schutt.
Vielleicht taugt er dazu, endlich die Gräben zuzuschütten,
Die alten und die neu zwischen uns aufgerissen sind,
Damit nicht Neid und Vorurteil das zarte Band zerrütten,
Das sich grad vorsichtig zwischen uns zu weben beginnt.
Ich seh den Umbruch, seh Vertraun, den Aufbruch und den Wandel,
Ich seh Verbitterung, Verzweiflung und den Rückschlag schon.
Glitzergirlanden über dem maroden Autohandel,
Die Glücksritter und Goldgräber sind längst auf und davon.
Dem Videoverleih ist längst die Puste ausgegangen,
Und in der Plattensiedlung bleibt die Zeit ganz einfach stehn.
Die Zukunft? Nein, hier hat die Gegenwart nicht stattgefunden,
Von Satellitenschüsseln und Discountmarkt abgesehn.
Der Lebensplan ist abgewickelt und der Job verloren,
Die Sprüchemacher sind verstummt und traun sich nicht mehr her.
Die Drahtzieher von damals bleiben wieder ungeschoren,
Die Bonzen und die Spitzel, die packt heut doch keiner mehr.
Es braucht schon einen unverschämten Mut zum Überleben,
Um ohne Zukunft das Vergangene auszuradiern.
Sie haben sich nicht aufgelehnt, um jetzt klein beizugeben,
Die Unterdrücker nicht verjagt, um stumm zu resigniern.
Ich hör so viele Torheiten von Welten, die uns trennen,
Dass sich aus Neid und Widersprüchen neuer Zwist entspinnt.
Wir müssen ja nicht gleich sein, nein, wir müssen uns nur kennen.
Wir sind doch nicht nur eins, wenn wir auch einer Meinung sind.
Zwischen Kontrollpunkt Drewitz und der Brücke von Dreilinden
Steht auf dem Panzerdenkmal heut ein pink bemalter Kran.
Es ist noch viel Gestrüpp und Vorurteil zu überwinden,
Der erste und der schwerste Schritt dahin, der ist getan.
Aus “ Nach Haus“, 2024
Fotos © Hella Mey