3. November 2024
Solange ich denken kann, mehr als mein halbes Leben lang, hat man mir neben allen möglichen treffenden und weniger treffenden Bezeichnungen das Etikett ’68-er angeheftet, seit ein paar Jahrzehnten wird gern auch noch ein etwas mitleidig betontes Adjektiv „Alt“ davor gesetzt. Das trifft mich nicht, ich bin ja nie ein ’68-er gewesen, ich bin irgendwie meiner Zeit immer ein bisschen voraus, und so bin ich ein ’67-er, meinetwegen auch gern ein alter. 1967, das war mein Jahr! Ein Jahr voller großer Ereignisse, ein Jahr voller wichtiger Entscheidungen, in dem ich voll von kindlichem Urvertrauen und jungendlichem Optimismus die Weichen für mein ganzes Leben gestellt habe. Ich habe in diesem Jahr einen Weg gewählt, bei dem ich vom ersten Schritt an wusste, wohin ich wollte. Es sollte ein grader Weg sein, einer, der mich durch Tiefen und Höhen führen sollte, ich wollte ihn bewusst und erhobenen Hauptes gehen, bis zum Ende irgendwann. Ich bin durch strahlend helle Morgen und tiefschwarze Nächte gegangen, ich gehe diesen damals eingeschlagenen Weg bis heute, und ich hoffe, dass ich ihn noch ein gutes Stück weitergehen kann.
Wie im Focus eines Brennglases sehe ich in diesem Jahr 1967 die Erkenntnis aus allem, was ich bis dahin mit meinen 24 Jahren erlebt hatte, und ich erkenne die Bahnen vorgezeichnet, auf denen ich von da an weitergehen sollte. Ich sehe darin ganz klar die Ziele, zu denen ich aufgebrochen bin, 1967 war meine Sturm- und Drangzeit.
Ich lebte in einer Mansarde im Hause meiner Eltern am Stadtrand von Berlin. 24 Jahre alt, nur Musik im Kopf. Bohémien und die Füße unterm Tisch bei den Eltern, wie geht das? Es ging wunderbar. Ich hatte die liebevollsten, verständnisvollsten, großzügigsten Eltern, die ein Kind sich wünschen kann. Mutter und Vater waren Freidenker und Freigeister, an allen Künsten interessiert, musikbegeistert, von alten Meistern beseelt, von jungen Wilden fasziniert, offen für alles Neue und trotz ihrer, gern abschätzend als bürgerlich bezeichneten Berufe, wahrhaft die unbürgerlichsten Leute, denen ich je begegnet bin. Ich liebte meine Eltern und hatte nun mal keinen Generationskonflikt, was mir im Laufe meines Lebens manches Mal als Makel angekreidet wurde. Aber was sollte ich denn machen, meine Eltern hatten keine Nazivergangenheit, für die ich sie hätte verachten können. Mein war Vater mit 40 Jahren als Gefreiter zum Krieg eingezogen und – als leidenschaftlicher Musikliebhaber – mit einem zerstörtem Gehör zurückgekommen. Seinem 15 Jahre jüngeren Bruder hatte vor Stalingrad eine Granate ein Bein abgerissen, sein anderer blieb in Russland vermisst, und der Schmerz und das vergebliche Warten auf seine Heimkehr überschatteten ein Leben lang die ganze Familie. Mein Vater war ein leidenschaftlicher Pazifist. Wogegen sollte ich mich auflehnen? Meine Eltern waren freundlich zu meinen Freunden und gastfreundlich zu meinen Freundinnen, sie hatten mir alle Freiheiten geschenkt – und mein Moped, und meine erste Gitarre, worüber sollte ich mich mit ihnen zerstreiten, wofür sollte ich sie verabscheuen, welchen Vorwurf sollte ich Ihnen machen? Das Problem mit meinen Eltern war, dass ich kein Problem mit ihnen hatte.
Ach ja, und mein erstes Auto und manche Tankfüllung verdanke ich ihnen auch noch. Einen grauen Standard-Käfer, ohne Chrom, ohne Synchrongetriebe, ohne den ich es nie geschafft hätte, zu den Proben mit meiner ersten Band, den Rotten Radish Skiffle Guys und mit Schobert (später Schobert & Black) zu kommen. Nie aus der Pampa am Rande der Stadt in die Clubs, in denen wir spielten, zum Go-In, zum Steve-Club, zu Dany’s Pan. Und schon gar nicht Jahre zuvor zum Chanson-Festival auf Burg Waldeck, meinem ersten großen Solo-Auftritt. Ich war ein Newcomer 1964 mit einem eigenen und drei geborgten Liedern zwischen den Großen, unseren Idolen, Franz Josef Degenhardt, Hanns Dieter Hüsch und Dieter Süverkrüp. Ich bewunderte sie für ihren Ideenreichtum, ich beneidete sie um ihr Riesenrepertoire, ich applaudierte für ihre überlegenen Auftritte. Ich saß mit tausend Gleichgesinnten im Gras im Rund vor der großen Freilichtbühne und hörte ihnen fasziniert zu. Und im nächsten Jahr kam ich wieder zu diesem Liederfest, das nun immer um Pfingsten herum stattfinden sollte – bis zu dem Tag im Jahre 1968, als ihm die Störer, die Unbegabten, die Schreihälse, die sich die „Progressiven“ nannten und sich wie die Faschisten gebärdeten und jede andere Meinung niederbrüllten, den Garaus machten – the day the music died! Aber es war ja erst 1965, und wir saßen noch alle einträchtig auf der nassen Wiese und hörten zu. Und diesmal kam da vor all den etablierten Stars ein großer, etwas schlaksiger Junge mit einer Baskenmütze mit langen Schritten auf die Bühne und sang zu einer mit filigraner Leichtigkeit gespielten Gitarre „Die Blumen des Armen“. Ich saß und hörte, ich rührte mich nicht, da sang einer das, was ich schon immer in unserer Sprache hören wollte, das waren die klaren, einfachen, sanften und zugleich harten Worte, das waren die reinen volksliedverwandten Melodien, die aus der Kindheit, vielleicht aus der Nacht der Zeiten in uns allen klingen. Seine Worte und Melodien verbanden sich, von seiner kräftigen, wohlklingenden Stimme getragen, zu einem überwältigenden Gesang. „Das Lied vom kleinen Mädchen“ sang er und „Begegnung“ – Hannes Wader! Wir hörten einander zu, wir hörten den anderen zu, wir sangen zusammen, wir tranken zusammen und erfüllt von Liedern und Gesprächen fuhren wir später zusammen in meinem grauen Käfer zurück nach Berlin. Aus unserer Begegnung wurde Freundschaft. Es sollte eine Freundschaft für ein ganzes Leben werden.
Hannes hatte den Sprung von Bielefeld nach Berlin gewagt, wohnte in Charlottenburg zur Untermiete. Zusammen schlugen wir uns auf den knarrenden Brettern, die die Welt bedeuten, der windigen Berliner Musikkneipen durch. Es war die gute, alte, verdammt harte Schule, die wir da durchliefen, zwei, drei Clubs hintereinander an einem Abend. Wir gaben einander die Türklinke und das Mikrofon in die Hand. Wir hatten gut zwei Dutzend Auftritte in der Woche vor mehr oder eher weniger aufmerksamen Zuhörern, dahindämmernden Kneipengängern, trinkfreudigen Studenten, lärmenden Zufallsgästen und aufgekratzten hereingeschneiten Berlin-Touristen. Türen knallten, Tonanlagen streikten, Gläser klirrten, Flaschen fielen um, wir sangen stoisch gegen alle und alles an und lernten, uns mit unseren Liedern gegen alle Widrigkeiten zu behaupten. Als Gage gab es fünf Mark für den Auftritt und das Bier frei. Für mich gab es allerdings nur die fünf Mark, ich musste ja mit dem Auto zurück in die Pampa fahren, mein Führerschein war mir heilig und die Voraussetzung, am nächsten Abend wieder zum „Dienst“ fahren zu können. Da war ich eisern und ich glaube diese Kompromisslosigkeit, mit der ich den zweiten halben Liter nach dem Auftritt ausschlug, haben mir damals in der Szene den Ruf des unnahbaren, asketischen, ungeselligen Außenseiters eingebracht. Na klar, wenn man als einziger in einer Runde, in der der Pegel ringsum schnell und ständig steigt, nüchtern bleibt, erscheint man den gutgelaunten Zechern leicht mürrisch und tut gut daran, zeitig den Heimweg anzutreten. Hannes, der direkt am Tatort wohnte, konnte geselliger sein, der konnte die Clubs zu Fuß abklappern, gegebenenfalls sogar heftig schwankend. Später, so geht die Legende, hatte er dabei unseren gemeinsamen Freund Klaus Hoffmann zur Begleitung, der ihm seinen Gitarrenkoffer von Bühne zu Bühne trug.
Vor allem aber musste ich zu dieser Zeit auch noch früh raus, denn um mich der Großzügigkeit meiner Eltern dankbar zu erweisen, hatte ich nach einer kaufmännischen Lehre, die ich ebenfalls um sie zu erfreuen absolviert hatte, ein Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Berliner Technischen Universität aufgenommen. Es war nicht der Wissensdurst, der mich dahin trieb, ich war nicht wirklich fasziniert von der Materie, aber ich wollte meinen Eltern zeigen, dass ich, auch wenn ich leidenschaftlich Musik machte, nebenbei doch noch was Anständiges lernte und sie sich also keine Sorgen um meine Zukunft machen müssten. Elternsorgen, die ich damals ahnte, aber deren Last ich erst vage ermessen konnte, seit ich selbst Kinder habe. Ich habe allerdings während meiner ganzen Studienzeit den Universitätsbetrieb nie richtig begriffen, ging orientierungslos in die falschen Vorlesungen und in die falschen Hörsäle, verlief mich auf den Fluren, begriff das System der Scheine und Übungen gar nicht, und statt der Klausuren schrieb ich meine Lieder auf den Klapptischen des Audimax der Technischen Universität. Ich fand keine Freunde auf dem Campus. Freunde fand ich abends, wenn ich Hannes, Schobert und Black, die Insterburgs und Ulrich Roski hinter der Bühne wiedertraf.
Anfang ’67 hatte ich ein Dutzend eigene Lieder. Das war genug für den Kurzauftritt in der Kneipe, aber zu wenig für das angestrebte abendfüllende Konzert, für das Sehnsuchtsziel Tournee. Hannes ging es ähnlich, er hatte auch 12 Lieder und die gleichen Sehnsüchte, also haben wir unsere Schätze zusammengeworfen und zogen mit 24 Liedern los. Zusammen in meinem grauen Käfer, zwei Gitarren auf dem Rücksitz, Hannes ein begnadeter Beifahrer, ich immer stocknüchtern am Steuer. Wir teilten uns die Konzerte, wir wechselten uns auf der Bühne ab, Hannes begann seinen Untermieterzyklus mit „Frau Klotzke“, ich sang „Frau Pohl“, Hannes’ „Aufgewachsen auf dem Lande“ und ich „Bauer, ich bitt’ euch um Pardon“. Wir teilten die Hotelzimmer, die Spritkosten, die Spielfreude und den Beifall. Und wir teilen noch heute die kostbare Erinnerung daran.
Neben neben all den großen Plänen, den persönlichen Wünschen, den Zielen und Hoffnungen teilten wir auch die Ahnung der Bedrohungen um uns herum, die Erschütterungen, die uns ein innerer Seismograph meldete. „The times they are a changing“ sang Bob Dylan und wir sangen „We shall overcome“ und „Give peace a chance“. Wir waren auf den Demos gegen den bestialischen Krieg der Amerikaner in Vietnam, gegen den Nato-Doppelbeschluss, gegen das Springer-Imperium. Hannes haben sie auf so einer Demo zwei Zähne ausgeschlagen. Als im Juni ’67 bei einer Demonstration gegen den Schah der Student Benno Ohnesorg erschossen wurde, begriffen wir mit Entsetzen und Wut, dass es ernst wurde, dass unsere ungewissen Ängste traurige Realität geworden waren. Die Gewalt, die da plötzlich ausbrach, die Intoleranz auf allen Seiten verunsicherte mich zutiefst, stieß mich ab und widersprach all den Idealen, mit denen ich aufgewachsen war. „Nie wieder Krieg“ hatte ich aus allen Gesprächen zu Hause herausgehört und verinnerlicht, und zu dieser Lehre gehörte auch, „wehe dem, der die Hand gegen seinen Nächsten erhebt, wehe dem, der die Waffe auf ihn richtet“. Das Niederbrüllen der anderen Meinung, die hässliche Fratze der Brutalität auch auf Seiten derer zu sehen, die ich für die Guten hielt, hat mich mit Abscheu gegen jede Form von Aggression geimpft, und mich immun gemacht gegen Demagogie und für immer skeptisch gegenüber allen Ideologien und Heilslehren. Diese Lektion aus den Gewalttätigkeiten des Jahres 1967 sollte ich noch einmal als unmittelbarer Zeuge der bürgerkriegsähnlichen Straßenschlachten im Mai ’68 in Paris verinnerlichen und bestätigt finden.
Mit den großen Weltereignissen vermischen sich in diesem Jahr auch meine persönlichen Weltereignisse. Ich hatte über die Auftritte auf der Waldeck und durch freundliche Empfehlung von Hanns Dieter Hüsch Kontakte zu ein paar Radioleuten bekommen, die mir die Chance gaben, meine Lieder beim Rundfunk aufzunehmen. Diese Aufnahmen spielten sie dann nicht nur in der nächtlichen Chansonecke sondern am helllichten Tage in Feuilleton- und – passend zu den jeweiligen Nachrichten – in Magazinsendungen. Und sie bezahlten sehr fair dafür. Ich erinnere mich in Dankbarkeit an Hilmar Bachor vom WDR, bei dem ich 12 Lieder einspielen konnte, 200 Mark gab es pro Lied, das war eine Riesengage, die dem „armen Poeten“ auf längere Zeit das Überleben sicherte. Und damals gab es 12 Rundfunkanstalten, die ihre Eigenproduktionen eifersüchtig nicht untereinander austauschten, für uns Liedermacher ein wunderbares Geschenk des Föderalismus, denn so konnten wir unsere Lieder 12-mal anbieten. Nicht alle Sender nahmen unsere Angebote an, und keiner zahlte so gut wie der WDR. Nur der SDR in Stuttgart war noch ähnlich großzügig. Dort war – was schon in der damaligen Radiowelt nicht oft vorkam – ein leidenschaftlicher Vollblutmusiker Chef der Musikredaktion, ein E-Musik-Dirigent und ein Chanson- und wahrer Menschenfreund, Wolfram Röhrig. Ich hatte von ihm gehört und getan, was wir alle damals taten, nämlich mich mit einem Tonband mit meinen Liedern beworben. Sie gefielen ihm, er ließ mich nach Stuttgart kommen und eine Handvoll Chansons mit dem großen Rundfunkorchester des SDR aufnehmen und bot mir an, für seinen Sender im deutschen Team bei einem damals europaweit beachtetem Chansonfestival in belgischen Seebad Knokke aufzutreten. Welch eine Chance! In Belgien, dachte ich mir, spricht und hört man Französisch, also musste ein französisches Lied her. Meine Eltern hatten mich als kleinen Jungen früh nach Frankreich reisen lassen, ich war in französischen Familien, auf einer französischen Schule, und seit 6 Jahren hatte ich eine französische Freundin, Französisch war meine zweite Muttersprache. Gewiss hat auch meine Liebe zum Chanson und die Liebe zu meinem Handwerk ihren Ursprung in Frankreich und im Leben und Werken von Brassens, Brel und Trénet. Für meinen Auftritt in Knokke habe ich aus „Das alles war ich ohne dich“, einem meiner ersten Lieder, „Il me stuffit de ton amour“ gemacht und mir von Hannes Wader das Einverständnis geholt, sein Lied „Begegnung“ ins Französische zu übersetzen in „Rencontre“, logisch. Mit diesen beiden Liedern, im Smoking und vor großem Orchester stand ich auf der Bühne und erkannte viel zu spät am spärlich plätschernden Applaus, dass in Knokke alle im Saal lieber flämisch hören und nur ungern Französisch, und das dazu noch von einem Deutschen. Alle im Saal? Ein Flop? Nein, ein Glücksfall, ein kleiner, dicker, lustiger, griechischstämmiger, französischer Schallplattenproduzent aus Paris saß da, hatte meine Lieder verstanden und einen Narren an ihnen gefressen. Nicolas Pérides hieß er, und ich glaube, die berühmten Worte aus dem klassischen Show-Business-Märchen „Ich bring’ dich ganz groß raus!“ sind wirklich aus seinem von einem gewaltigen schwarzen Schnurrbart überdachten Mund geflossen. Er hat Wort gehalten, und wir sind Freunde geworden und bis zu seinem Tod vor ein paar Jahren geblieben. Wir haben zusammen sieben Langspielplatten gemacht, er hat mir den Weg ins Olympia und ins Bobino geebnet, und wir haben die zwei wichtigsten französischen Schallplattenpreise bekommen, in den ’70-ern den „Grand Prix du Disque de l’Académie Charles Cros“, und den „Prix International de l’Académie de la Chanson“ für mein ’67-er Album „Frédérik Mey, Volume 1“. Der Preis sollte von der Académie groß gefeiert werden, ein halbes Jahr nach der Bekanntgabe, die Party war für den 20. Mai 1968 angesetzt. Es waren Cocktails, Canapés und Champagner für die Preisträger und 200 Gäste aus Presse, Radio und Fernsehen bestellt. Am 20. Mai brannten die Barrikaden in Paris, die Pflastersteine und Tränengasgranaten flogen, die Straßen hallten wieder von Sirenen und Detonationen, Generalstreik, kein Strom, keine Metro keine Busse, kein Taxi. Nicolas Pérides, seine Frau Monique und ich schlugen uns zu Fuß bis zum Casino durch und waren mit drei anderen Preisträgern und deren nächsten Angehörigen allein mit Cocktails, Canapés und Champagner für 200 Gäste, welch eine Party!
In Deutschland hatte mir 1967 so ein Schallplattenpreis als Visitenkarte aus dem Mutterland des Chansons eine Einladung zu einer Fernsehsendung eingebracht. Ein Playback wurde gebraucht, aber ich hatte ja immer noch keine deutsche LP. Die Filmproduktion schickte mich also ins damals schon berühmte Hansa-Studio, da sollte ich mein Lied „Ich wollte wie Orpheus singen“ aufnehmen, und da – einmal mehr schöner Zufall – saß in der Tonregie mit ganz anderen Dingen beschäftigt, ein Schallplattenproduzent und hörte mit halbem Ohr zu, was ich da sang. Walther Richter hieß er, kam zu mir und diesmal, könnte ich schwören, fielen wirklich die Worte „Ich bring dich ganz groß raus“. Ich unterschrieb den Vertrag noch am selben Abend, und wir nahmen mein erstes deutsches Album auf, es folgten noch 16 Alben bis zu Walthers Tod.
Ich hatte wie besessen geschrieben in diesem Jahr, ich hatte Feuer gefangen an diesem Dichten, an dem Suchen und Finden von Ideen, Worten und Melodien, und vor allem am Ringen mit unserer schönen, störrischen, widerspenstigen, aber dafür so wunderbar genauen Sprache. Auf Französisch war alles spielerisch leicht, alles reimte sich auf so ziemlich alles, ich konnte drauflos fabulieren. Auf Deutsch war alles klar, unmissverständlich, gnadenlos durchschaubar, da gab’s kein Entfliehen ins Vage. Aber genau das war ja die reizvolle Herausforderung. Ich hatte mir inzwischen ein abendfüllendes deutsches und französisches Programm geschrieben, Hannes und ich gingen nun jeder für sich unserer Wege. Ich zog ab jetzt allein in die Kellertheater, die Chanson- und Folkloreclubs, die Kleinkunstbühnen dies- und jenseits des Rheins, von Fellbach nach Clermont-Ferrand, von Biberach nach Bordeaux. Nein, nicht allein, meine Freundin Christine hatte ihr Studium an der Sorbonne in Paris für ungewisse Zeit unterbrochen, um mit mir auf ungewissen Wegen das Gauklerleben zu teilen, nach sechs Jahren Fernbeziehung wollten wir uns nicht mehr trennen. In Paris lebten wir bei ihren Eltern, in Berlin bei den meinen, aber die meiste Zeit lebten wir in Hotels und Pensionen, immer unterwegs in meinem alten grauen Käfer. Natürlich litt mein BWL-Studium unter dem Musizieren, dem Vagabundieren zu den immer zahlreicheren Auftritten. Aber ich hatte wenigstens genug von den Volkswirtschaftsvorlesungen mitbekommen, um eine einfache Rechnung aufmachen zu können: Wäge ab, was willst du? Jetzt gleich und sofort jede Menge Lebenslust, Freiheit, Musik und Beifall bei, wenn auch bescheidenen, aber für ein genügsames Leben genügenden Gagen? Oder Finanzmathematik, Statistik, Jura und im falschen Hörsaal sitzen, mit der keineswegs gesicherten Aussicht, eines Tages auf dem Chefsessel eines Großkonzerns steinreich zu werden? Ich hatte doch in den Vorlesungen die Begriffe Risikoprämie und Talentprämie gehört und verstanden. Für talentiert hielt ich mich in meiner jugendlichen Unbekümmertheit, und risikofreudig war ich erst recht, für mich war die Sache klar: Noch vor Ende des Wintersemesters im Mai 1967 schlug die Tür der Technischen Universität zum letzten mal hinter mir zu, und ich entschloss mich, das Liedermachen zu meinem Lebensberuf zu machen. Ich habe diesen Entschluss nie, auch nie vor den schlecht besuchtesten, lausigsten Sälen, nie angesichts der hämischsten Kritiken, und nie in den dunkelsten, einsamsten Stunden des Lampenfiebers für einen Augenblick bereut. Meine Eltern, die mich immer unterstützt hatten, unterstützten mich auch jetzt. Sie hatten weise erkannt, dass ich den Weg gewählt hatte, von dem ich wusste, dass er mich glücklich machen würde, und meine Eltern waren glücklich, wenn ich es war. Sie machten mir Mut, sie nahmen Anteil an meinem Werdegang, sie freuten sich an meinen Erfolgen. Ich glaube, sie mochten meine Lieder, aber sie verhielten sich still, zurückhaltend, ohne ihren Elternstolz herauszuposaunen, und sie unterstützen mich unauffällig und unaufdringlich, immer wieder mit einem Schein, den ich zwischen meinen Hemden und Hosen im Koffer fand. Und noch als gestandenem Mann steckte mir meine Mutter bis zu ihrem Lebensende einen Umschlag mit einem Hunderter zu, wenn ich auf Tournee ging, „geh mal schön essen!“.
Mai ’67, ab sofort war ich ich also tatsächlich Berufsmusiker und diese Bezeichnung trug ich bei Ankunft in den Hotels und Pensionen wie einen Adelstitel stolz in die die Spalte „Beruf“ der Meldescheine ein. Nur mit dem Ausfüllen der Rubrik „Begleitung“ und meiner Freundin gab es immer wieder die gleichen, leidigen Probleme. Zu dieser Zeit herrschte sowohl im liberalen Frankreich wie auch in Deutschland noch eine mittelalterliche Moral, die zwingend vorschrieb, dass Frauen und Männer verheiratet zu sein hatten, wenn sie das Zimmer teilen wollten, vom Bett ganz zu schweigen! Alles andere galt als Unzucht und unsere braven Eltern, die uns in Berlin unter ihrem Dach und in Paris in ihrer „chambre de bonne“ leben ließen, standen unter ständiger Bedrohung des „Kuppelparagraphen“ mit einem Bein im Gefängnis. Hauswirte, Zimmervermieter und Pensionswirtinnen hatten eine Heidenangst vor der Anzeige eines bösen Nachbarn oder missliebigen Konkurrenten, der sie denunzieren und ihre Pension ruinieren konnte, weil sie einem unverheirateten Paar Quartier gaben. Genervt von der ewigen Frage nach dem Familienstand, müde vom „verheiratet“-Schwindeln und der Peinlichkeit, wenn das rauskam – damals musste man an der Rezeption noch den Ausweis vorzeigen – haben wir in jenem Sommer geheiratet. Unsere Hochzeit war ein buntes Fest an einem strahlend hellen Sommertag, bunt die Gesellschaft unserer Eltern, unserer Familie, unserer Freunde aus Paris, aus Berlin, von irgendwoher. Wir feierten bis zum Abend im Garten und später im damals obligatorischen verrauchten Fetenkeller, den ich mir in meiner wildesten Jugend im Hause meiner Eltern eingerichtet hatte. Gegen Mitternacht erschienen so uneingeladen wie aufgekratzt meine Kollegen nach der Show im „Reichskabarett“, wo wir damals am liebsten auftraten, weil es keine lausige Kneipe war, sondern wie ein Theater bestuhlt war, und damit ein etwas weniger betrunkenes, zivilisierteres Konzertpublikum hatte. Ingo Insterburg und Karl Dall fielen da bei uns ein, Schobert und Black, Ulrich Roski, und eine Schar Besucher der Vorstellung hatten sie auch noch mitgebracht. Ein unglaublicher Tag mit einem unglaublichen, chaotischen Abend. Ich weiß nicht, wie er endete, wir Frischvermählten haben uns einfach verkrümelt, wenn’s am schönsten ist, soll man gehen – mach ich heute noch so. Aber alles muss ohne Flurschaden ausgegangen sein, und meine Gesellen von einst, soweit sie noch unter uns weilen, erzählen noch immer mit glänzendem Auge, von dem Abend, an dem sie unsere Hochzeit aufrollten.
Am übernächsten Tag gingen wir auf unsere Hochzeitsreise, sie führte uns um 20 Uhr auf die Bühne des „Club Alpha“ in Schwäbisch Hall, in die „Bastion“ in Kirchheim unter Teck, in die „Manufaktur“ in SchorndorfI, in den „Jazzclub Esslingen“ und zu einem guten Dutzend Konzerte mehr. Sie war wie der Trailer zum Roadmovie unserer Ehe, so würden die nächsten Jahre aussehen.
An jenem Sommertag des Jahres 1967 waren wir uns sicher, „das ist für immer“! Es war nicht für immer, aber die Spanne, die wir für „immer“ hielten, war ein gute, glückliche, wilde Zeit. Die Tiefe und die Aufrichtigkeit einer Liebe haben nichts mit ihrer Dauer zu tun. „Nicht jede große Liebe braucht auch ein Happy End“, hab ich später mal geschrieben.
Mein VW-Käfer hatte im Herbst ’67 ein Viertelmillion Kilometer auf dem Tacho, die Bodenbleche unter den Vordersitzen waren durchgerostet, Wasser kam herein, die Achsschenkelbolzen – jeder Käferfahrer kennt das – waren ausgeschlagen, die Kupplung rupfte, die Kompression war dahin. Mein lieber, alter grauer Packesel hatte sich auf meinen Reisen auf den Straßen zwischen Berlin und Paris, auf unzähligen Ritten auf der Rüttelstrecke durch die DDR von Dreilinden nach Helmstedt, von einer Tourneestation zur anderen für mich verschlissen. Es war ein wehmütiger Abschied, gemischt mit einem unbeschreiblichen Jetzt-hast-du’s-geschafft-Hochgefühl, als ich ihn auf dem Hof des Händlers abstellte und mit meinem vom ersten selbst verdientem Geld gekauften, nagelneuen, nach Lack, Polster und Gummi duftendem, himmelblauen Käfer davonfuhr.
„Ich denk’ es war ein gutes Jahr“ sang ich am Ende des Jahres 1967 in einem Lied auf meiner ersten Langspielplatte. Ja, das traf es und das Lied, das dem Album seinen Titel gab, traf es auch: „Ich wollte wie Orpheus singen“. Vom ersten Tag, an dem ich Musik machte, bei meinen ersten Gitarrenakkorden wusste ich, was ich im Leben machen wollte: Ich wollte Lieder schreiben, ich wollte Gitarre spielen und meine Lieder singen. Meine Themen sollten das Leben sein, mein Freund Hannes hat diesen Quell aller Ideen mit drei Worten in einer unschlagbar knappen und anschaulichen Formel beschrieben: „Liebe Schnaps Tod“. Darauf lässt sich alles zurückführen, darin lässt sich alles zusammenfassen, damit ist alles gesagt, das ist der Grundstoff, aus dem alle Lieder sind.
„Meine Lieder klingen nach Wein und meine Stimme nach Rauch“ sang ich 1967 in meinem Lied vom Orpheus, nach Wein klingen sie noch immer, nach Rauch schon lange nicht mehr, was heute in ihr wie Rauch klingen mag, sind die 50 Jahre, die seitdem vergangen sind. Ich will immer noch wie Orpheus singen!
Aus „Freundliche Gesichter“, 1981
Fotos © Privat