14. Juli 2024
Douce France
Der Junge auf dem fremden Bahnhof, wie ein Hindernis im Treck
Der Hastenden, der Reisenden, hatte leichtes Marschgepäck:
Ich stand wie Vasco da Gama vor dem Tor zur neuen Welt,
Die Fahrkarte am Band um meinen Hals, ich war ein Held!
Mit einem unscharfen Foto sucht’ ich nach ihnen verstohl’n
Und mein Hasenherz, das flüsterte: Keiner kommt, dich abzuhol’n.
Verlor’n, verscholl’n, gestrandet, Bahnsteig 10 am Gare de l’Est
Ist ein sehr einsamer Platz, wenn dich dein Heldenmut verläßt…
Da rief jemand meinen Namen, ich bin auf sie zugerannt,
Sie schlossen mich in ihre Arme, die fremden Menschen auf dem Bild in meiner Hand.
Douce France!
Alles ist so fremd, so anders, so verwirrend und so schnell.
So viel neue Bilder, alles ist so aufregend, so grell.
Die Worte, die ich nachspreche und beginne zu versteh’n,
Menschen, die mir hier begegnen und die Dinge, die gescheh’n:
Wie sie ihre Autos parken, ohne Skrupel, ohne Zwang,
Küssen sich auf offner Straße und sie essen stundenlang,
Menschen, die auf U-Bahnschächten schlafen, hatt’ ich nie geseh’n,
So viel Lebensmüde, die bei rot über die Kreuzung gehen.
Und Cafés stell’n Tisch und Stühle auf die Bürgersteige raus
Ich bin so fern von zuhause und ich fühl mich doch schon zuhaus!
Douce France!
100 Francs für eine Cola, 3 mal 50 für Kultur
Aus der Juke-Box für den großen Georges, Trénet und Aznavour.
Wie haben sie mich entzündet, überwältigt und bewegt,
Hab’ mein ganzes Taschengeld in ihren Liedern angelegt!
Und die spielt’ ich nach auf den Boulevards als Straßenmusikant
Abends vor den Filmpalästen, wo man damals Schlange stand.
Ich habe Boris Vian gehört, Grapelli und Béchet –
Sein Sopran drang auf die Straße vorm „Caveau de la Huchette“.
Andächtig standen wir draußen, zwei Kinder Arm in Arm,
Der Lebensdurst, die Zärtlichkeit und der Jazz hielten uns warm.
Douce France!
Hab’ die Frauen in der Rue du Faubourg St. Denis geseh’n,
Die ihre Schönheit verkaufen und ich konnt’ es nicht versteh’n,
Daß sie sich für jeden Drecksack hinlegen, für jeden Wicht,
Wenn er nur die Kohle hinlegt – ich versteh’ es heut noch nicht!
Ich sah Pflastersteine fliegen, sah die Fratze der Gewalt,
Sah die Klugheit unterliegen, sah die Hand zur Faust geballt,
Sah sie offen ausgestreckt und zur Versöhnung schon bereit,
Lebte Freiheit, fühlte Gleichheit und ich fand Brüderlichkeit.
Douce France!
Wie ein Film flimmert mein Leben über die Kinoleinwand,
Einer von den schönen alten mit Ventura und Montand.
Ich seh: Soviel hat der Junge, der da spielt, bei dir gelernt.
Hat dich 100 mal verlassen, hat sich nie von dir entfernt.
Hat geübt, sein eignes Land mit Liebe besser zu versteh’n
Und Unabdingbares milder und versöhnlicher zu seh’n.
Da war nie ein Wort der Feindschaft, nie eine Demütigung,
Nur so ein gewisses Lächeln in meiner Erinnerung.
Manchmal, wenn ich an mir leide, dann machst du mich wieder heil,
Von meiner schweren, dunklen Seele bist du der helle, der federleichte Teil.
Douce France!
Aus „Nanga Parbat“, 2004
Foto @ Privat