23. Januar 2024
Der Biker
Das Auto kam mir voll auf meiner Seite entgegen.
Wie lange hab‘ ich unter dem Motorrad gelegen?
Die Welt verschwimmt vor dem beschlagenen Visier.
Viele kleine Englein singen, und die Sterne funkeln,
Petrus kichert leis‘, aber da im Dunkeln
Kniet ein großer, schwarzer Biker neben mir.
Wuchtet die schwere Maschine locker von mir runter,
Legt den zusammengerollten Regenkombi unter
Meinen Helm und langsam wir es wieder hell.
Das Bild wird scharf und was ich seh ist unbeschreiblich:
Der Biker ist ’ne Bikerin, der Kerl ist weiblich,
Hey, das ist nicht meine, alte Freundin Annabelle!
Annabelle, diesmal machen wir zwei es richtig,
Was mal schiefgegangen ist nicht so wichtig,
Diesmal, Annabelle, diesmal treiben wir es bunt!
Vergiss meine Wortspiele mit deinem Namen,
Mach mir noch ein paar Erste-Hilfe-Maßnahmen
Dann beatme mich noch etwas Mund-zu-Mund!
Mit einem klugen Griff, das kann sie, keine Frage,
Bringt sie mich sanft in die stabile Seitenlage.
Annabelle, was ich dir schon seit 30 Jahren sagen will:
Ich glaub‘ ich habe da bei dir was gut zu machen,
Ich habe damals, nur damit die Leute lachen …
Sie legt mir den Finger auf den Mund, still jetzt, ganz still.
Kein Wort mehr über mehr oder wen’ger gescheite
Sprüche, über Beifall von der falschen Seite,
Keine Vorwürfe, keine Entschuldigung.
So waren die Zeiten halt, so ist das Leben,
Wer viel hinlangt, der langt auch schon mal daneben
Und ich war ganz ehrlich, ganz sicher, ganz dumm und ganz jung.
Annabelle, diesmal machen wir zwei es richtig,
Witzigkeit ist diesmal nicht so furchtbar wichtig.
Diesmal, Annabelle, diesmal war es verdammt knapp.
Lass uns die Gelegenheit beim Schopfe packen,
Leg deinen Arm nochmal unter meinen Nacken
Und nimm mir altem Schelm den kaputten Helm und die Beichte ab!
Deine Ideale, will mir heute scheinen,
Waren gar nicht so weit weg von meinen,
Doch das zuzugeben, war ich viel zu blöd und stolz.
Kleinliche Polemik, sinnloses Gestreite,
Eigentlich standen wir beide auf derselben Seite,
Eigentlich waren wir beide aus demselben Holz!
Inzwischen hatten ein paar Autos angehalten,
Und ein Dutzend dumpfe, untät’ge Gestalten
Begann sich gaffend und schwatzend um uns herum zu schar’n.
Ich sah von unten rauf in ihre Nasen
Und las in ihren Glotzaugen wie in Sprechblasen:
Was müssen zwei so alte Säcke auch noch mit’em Mopped fahrn!
Annabelle, diesmal machen wir zwei es richtig,
Diesmal sind wir beide völlig uneinsichtig.
Diesmal, Annabelle, stehen wir mit dem Rücken zur Wand.
Andre werden klüger, andre werden milder,
Andern fall’n die Zähne aus, komm lass uns wilder
Werden, und lass noch deine Hand unter mein’m Verband!
Zwei wie du und ich, wir mussten einfach Funken schlagen,
Konnten, auch wenn wir’s dachten, nicht dasselbe sagen,
Dabei wusstest du: Ich war der erste Feminist.
Zwei wie du und ich uneins doch unzertrennlich.
Sicher wusst‘ ich immer schon: Irren ist männlich,
Und ich wusste, dass die Zukunft weiblich ist.
Blaulicht und Sirene und Rettungswagen.
Pfoten weg und wagt es nicht mich abzutragen!
Ich bleibe hier, den Kopf in deinem Schoß.
Tropf am Haken, Anschnallgurte, Milchglasscheiben,
Einer soll da rein, einer soll draußen bleiben?
Annabelle, verdammt, lass mich jetzt bloß nicht los!
Annabelle, diesmal machen wir zwei es richtig,
Ideologie ist diesmal nicht so wichtig.
Annabelle, wir hab’n uns viel zu lang verkohlt.
Männer und Frau’n passen vielleicht nicht zusammen,
Aber meine allerschönsten Schrammen
Habe ich mir in diesem Duell, Annabelle, bei dir geholt.
Aus „Flaschenpost“, 1998
Foto © Jim Rakete