24. Juni 2023
Die Tür aus gold’nem Draht steht unverschlossen
nur einen Augenblick, doch lang genug.
Das Fenster, achtlos angelehnt, knarrt leise
und öffnet einen Spaltbreit sich im Zug.
Das ist die große, langersehnte Chance,
sie kommt nur einmal, jedes siebte Jahr:
Der Käfig offen und zugleich das Fenster,
ergreife sie im Flug, jetzt nimm sie wahr!
Den Kopf tief eingezogen ins Gefieder,
ein Zögern, dann ein ein rascher Flügelschlag
Um aufzusteigen aus der dunklen Stube
Hoch in den gleißend hellen Vormittag
Frei, frei, frei!
Endlich frei!
Der Gefangenschaft entflohen,
Alles andre einerlei,
Du bist frei, frei, frei,
Endlich frei!
Du, das Symbol der Freiheit, eingeschlossen,
die Welt auf zwei Spannweiten eingeengt,
Das eigne Bild als einzigen Gefährten
im Spiegel, der an einem Kettchen hängt.
Nur ein Bewegungsablauf immer wieder
bis zur Verzweiflung, stumpfsinnig gemacht.
Ein Tuch über das Drahtgeflecht geworfen,
bestimmt, ob für dich Tag ist oder Nacht.
Manchmal flatterten Schatten vor dem Fenster,
Da war ein Zanken, Zetern und Getos’,
Das Rascheln und das Singen ihrer Schwingen –
wie beneidetest du sie um ihr Los!
Frei, frei, frei!
Endlich frei!
Der Gefangenschaft entflohen,
Alles andre einerlei,
Du bist frei, frei, frei,
Endlich frei!
Du ziehst am klaren Himmel deine Kreise,
den Wind unter den Flügeln wie im Rausch,
Ein eis’ger Hauch statt der vertrauten Wärme,
verlor’n, verirrt und doch ein guter Tausch!
Du wirst dein Valparaiso nicht finden,
nur Neid und Zank um deine Federpracht,
Um ein paar Krumen aus dem Abfall streiten,
um eine Mauernische heute Nacht.
Du wirst nicht lang hier draußen bleiben können,
von Hunger und von Kälte ausgezehrt,
Du wirst dein Valparaiso nicht finden,
doch jeder Flügelschlag dahin war’s wert!
Du bist frei,
Endlich frei!
Der Gefangenschaft entflohen,
Alles andre einerlei,
Du bist frei, frei, frei,
Endlich frei!
Aus „Rüm Hart“, 2002
Fotos © Hella Mey