24. Dezember 2021
Es ist ein gutes und ein wahres und ein schönes,
allumfassendes Gefühl.
Es läßt sich nicht vorhersehn, läßt sich nicht erzwingen
und es paßt in kein Kalkül.
Es mag für einen Augenblick sein und für immer,
es ist frei vom Zwang der Zeit.
Es ist das Teil, es ist das ganze Universum,
es ist jede Winzigkeit.
Es ist die immer neue pathetische Filmszene
in ew’ger Wiederkehr
Liebe ist alles, Liebe ist mehr.
Es ist das Lächeln eines Fremden auf dem Flur,
wo du die Wartemarke löst
Es ist der kleine schwarze Straßenhund,
der friedlich in der Mittagssonne döst.
Es ist der Freund, der sich für dich um Mitternacht
noch mal in seine Küche stellt
Und dir was brutzelt und dem deine traurige
Geschichte gar nicht auf den Wecker fällt
Und für ein 6-Pack von der Nachttankstelle
stürzt er sich für dich in den Verkehr
Liebe ist alles, Liebe ist mehr.
Es ist der blankgeliebte Bär, aus dem dich die Holzwolle piekt.
Dein altes Ruderboot, das wartend an verborg’ner Stelle liegt.
Es ist das alte Haus, das knarrt und leise wispert: Weißt du noch
Wie’s auf dem Dachboden nach Äpfeln und nach Abenteuern roch?
Die Truhe, die verschloss’ne Tür, die ausgetret’ne Stufe raunt:
Komm her, komm her!
Liebe ist alles, Liebe ist mehr!
Jemand, der auf dem Bahnsteig wartet,
im Gedränge ein Aufflackern, ein Gesicht.
Die Ahnung und das Hoffen, nur ein flücht’ger
Blickkontakt im fahlen Neonlicht.
Es ist die Sehnsucht und das Streicheln,
die Umarmung aber auch die Wehmut schon.
Und das „für immer“ hingehaucht zur Zimmerdecke
einer schäbigen Pension.
Es ist das Bitt’re und das Süße und es läßt dich
federleicht und tränenschwer.
Liebe ist alles, Liebe ist mehr!
Es ist die immer neue pathetische Filmszene
in ew’ger Wiederkehr
Liebe ist alles, Liebe ist mehr
Aus „Flaschenpost“, 1998
Fotos © Hella Mey