Wo sind die Geschichtenerzähler?
Weltstadt Berlin, Hauptstadtradio, acht Uhr morgens, eine Karteileiche singt einen englischen Schlager „I’m your yesterday man“. Senderwechsel zur gebetsmühlenartig verheißenen größten Vielfalt, ein Untoter juchzt „I believe in miracles“. Aber es geschieht kein Wunder, auch nicht bei Hitradio: Wenn sich zwischen all die amerikanische Meterware mal ein Lied deutscher Zunge verirrt, dann geht seine Botschaft über die Erkenntnis „Ich bin ich“ nicht hinaus.
Wo sind die Geschichtenerzähler hin, alle verstummt? Wo sind die Singer-Songwriter, die Cantautori, die Auteurs-Compositeurs-Interprètes, wo sind die Liedermacher? Alle tot, alle in der Geschlossenen? Nein, sie leben noch und sie laufen frei herum, sie schreiben und sie singen. Sie erzählen, selbst wenn sie nicht mehr leibhaftig unter uns weilen, wie der wunderbare Fabrizio de André, wie Schobert und Ulli Roski oder Gerhard Gundermann. Sie sind gegenwärtig, aber sie sind wie Juwelen, sie liegen nicht auf den Grabbeltischen des Radios und des Fernsehens, man muß sie suchen, man muß sie aus eigener Neugier und Lust wiederentdecken. Sie leben und sie schreiben unsere Hannes Waders, unsere Degenhardts. Jeder, der einmal begonnen hat, zu schreiben und zu erzählen, wird das ein Leben lang tun, damit kann man nicht aufhören, nicht einmal, wenn man mit Berufverbot bedroht würde. Es kann nur geschehen, daß eine Medienwelle abebbt und man nicht automatisch mit Liedern und Balladen beschenkt wird. Wir kriegen sie nicht nachgeschmissen, wir müssen uns selbst auf ihre Fährte machen. Das ist manchmal mit Mühe verbunden, manchmal mit Detektivarbeit, aber wir werden reich belohnt mit Geschichten, die alle so verschieden und abwechslungsreich sind, wie die Handschriften derer, die sie erdacht haben, da entdecken wir die wirkliche größte Vielfalt! Da sind die alten, weisen Hasen wie Stoppok und Konstantin Wecker und da sind die Jungen klugen wie Dany Dzuik oder Bodo Wartke. Da sind Namen wie Johanna Zeul und Martin Sommer, die es zu entdecken gilt. Es gibt sie die Geschichtenerzähler und ihre Geschichten, in jedem Internet-Shop (ein bißchen Entschädigung dafür, daß es den Plattenladen an der Ecke nicht mehr gibt) können wir nach ihnen stöbern. Sie stehen auf Bühnen, sie singen leibhaftig vor Menschen, wir müssen nur ein bißchen forschen, wo und wann, aber der Lohn sind wunderbare Abende voller Chansons und Leben. Die Medien schlafen auf den Schätzen in Ihren Archiven, sind mit Quotenberechnungen zu beschäftigt, um sich um Qualität kümmern zu können. An uns, sie zu wecken! Schreiben wir den Radioleuten doch, daß wir nicht länger unterfordert werden wollen. Wir wollen die französischen, englischen, italienischen und deutschen Songpoeten hören! Wenn sie Wäschekörbe Post in die Studios bekommen, werden sie das sogar eines Tages in den Chefetagen merken. Doch der Schlaf dort ist tief und fest, also legen wir uns bis zum Erwachen nochmal in Vinyl „Es ist an der Zeit“ von Hannes Wader auf, oder wir erjagen die neue CD von Wenzel oder – bei aller Bescheidenheit – meine.
Die Geschichtenerzähler sind rar, sie erzählen leise und im Gebrüll um uns herum müssen wir hinhören, um sie nicht zu überhören und irrtümlich für tot zu erklären. Aber, Gott sei Dank, es gibt sie, sie leben noch und da haben sie zumindest eine Gemeinsamkeit mit dem alten Holzmichl: Sie sterben nie!