16. November 2024
Verschollen
Ich liege in der eisigen zu Stein gefrornen Erde
Im Planquadrat 11 C, nördlich von Zakharov am Don,
Zu Staub zerfalln, wie ich am jüngsten Tag hier liegen werde.
Nur der rostige, schlammbedeckte Stahlhelm weiß davon,
Wie wir verzweifelt kauerten unter dem Stahlgewitter.
Das Schloss an meinem Koppel, auf dem doch „Gott mit uns“ stand,
Ist Zeuge, nein, da war kein Gott, als mich der Bombensplitter
Auf Knien um mein armes kleines Leben betend fand.
Ich wollte nicht in diesen Krieg, ich hatte sanfte Hände,
Ich war ein lustger Vogel, all mein Glück war die Musik.
Sie zwangen mich zu ihrem Eid, aber ich schwor am Ende
Auf das 5. Gebot, ich wollte nicht in diesen Krieg.
Ich war ein schöner Kerl, ich wollte leben, lachen, lieben,
Ich wollte diesen Rock nicht, den Tornister, das Gewehr,
Ich wollte nicht in dieses Land, nun bin ich hier geblieben,
Bin eins geworden mit den harten Klumpen ringsumher.
Ich wollte nicht verrohen, plündern, ich wollte nicht schießen,
Und sah mich doch, ein Friedenslamm, die Waffe in der Hand,
Bereit zum Morden, Brandschatzen, bereit, zum Blutvergießen,
Sah Frau’n und Kinder als den Feind und hab ihr Dorf verbrannt.
Und auf dem Rückzug, auf der Flucht über verbrannte Erde
Haben wir nachts bei Zakharov über den Don gesetzt.
Mitten in der zerlumpten, elenden, versprengten Herde
Hat mich, schon fast in Sicherheit, noch dies Schrapnell zerfetzt.
Ich habe nicht geschrien, ich habe nicht gewimmert.
Hab ungläubig nur auf soviel blutigen Schnee gestarrt.
Eine mitleidge Seele hat ein Birkenkreuz gezimmert,
Die Erde aufgehackt und mich so gut es ging verscharrt.
Noch immer höre ich das Heer im Kugelhagel fliehen,
Höre die Kameraden über meinen Hügel gehn,
Ganz leise hör ich sie mit müden Schritten westwärts ziehen
Im Schnee auf Fußlappen um ihre erfrorenen Zehn.
Meine zwei Brüder kehrten heim, mir war das nicht gegeben,
Der eine verlor sein Gehör, der andre den Verstand.
Ich aber, ich verlor alles, mein ganzes junges Leben
Und schlafe gottverlassen in gottverlassenem Land,
Und schlafe gottverlassen, verschollen in fremdem Land.
Als ich ein kleiner Junge war, betete meine Großmutter jeden Abend
an meinem Bett „Lieber Gott, mach, dass Onkel Werner nach Haus kommt“
Aus „Nach Haus“, 2024
Foto © Hella Mey